Donnerstag, 26. November 2009

Über den politischen Pragmatismus

Ist es nicht lästig, auf dem erhabenen Thron der Einsicht sitzen zu müssen? Es ist so schrecklich einsam dort oben. Die ganze Welt und alle ihre Probleme liegen so klar und offensichlich vor Augen. Jedes einzelne ist sichtbar. Man muss doch nur einfach mal die Sache hier von oben betrachten -- ganz distanziert und objektiv! Und überall dort unten tummelt sich der Pöbel, der sich daneben benimmt und dumme Fragen stellt; lästige Fragen, bei denen man sich beim besten Willen nicht aufhalten kann. Muss wirklich jedem Idioten erst klar gemacht werden, dass sein Verhalten einfach nur daneben ist? Muss wirklich jedem Trottel bis ins Kleinste erst erklärt werden, dass er eine Last für die Gemeinschaft ist, in der er lebt? Muss wirlklich auf jeden Deppen Rücksicht genommen werden, der sich um seine Mitmenschen ja selbst so offenkundig nicht schert und sich nach Strich und Faden durchschmarotzt? Es ist ja wohl wirklich nicht zu fassen, wie die Weichspüler-Mentalität ständig nach 'political correctness' schreit! Es gibt nunmal Wahrheiten, die faktisch nicht zu leugnen sind; das darf ja wohl ausgesprochen werden! Und wenn wir mal anfangen würden, die Dinge auch beim Namen zu nennen, dann könnten wir uns auch endlich "pragmatisch" den Problemen zuwenden, statt ständig nur zu versuchen, auf das Geheule eines jeden Einzelnen zu hören und uns dadurch in der Problemlösung hemmen zu lassen. Würden wir nämlich all das endlich einmal hinten anstellen, dann würde es endlich gelingen, einmal die Probleme von Grund auf neu anzugehen und zu einer wirklich neuen, effektiven Lösung zu gelangen.

In Fjodor Dostojewskis "Schuld und Sühne" schreibt der Jurastudent Radion Raskolnikow einen Zeitungsartikel, in dem er seine Überzeugung ausspricht, dass es gewissermaßen das erhabene Recht und sogar die ethische Pflicht außergewöhnlicher Menschen sei, die Masse der bloß gewöhnlichen Menschen zu leiten und zu führen, selbst wenn diese die Leitung als Gewalt empfinden. Denn die Einsicht in die höheren Ziele, zu denen die Gesellschaft hingeführt werden soll, ist nunmal nur den wenigsten, den außergewöhnlichen Menschen möglich. Und so geht mit der Gabe der Einsicht auch die ethische Pflicht einher, die gewöhnlichen Menschen zu führen, welche Pflicht aber nur erfüllt werden kann, wenn sie mit dem Recht verknüpft ist, über die Einsicht und den Willen der gewöhnlichen Menschen hinweg entscheiden und bestimmen zu dürfen.

Der Münchner Philosoph Robert Spaemann hält einer solchen Haltung entgegen, dass jeglicher Versuch, das summum bonum in der Welt tatsächlich zu verwirklichen, unweigerlich in die Unmenschlichkeit führt. Besonders eindringlich untersuchen auch Horkheimer und Adorno eben diese Überlegung in der "Dialektik der Aufklärung": Sie stellen die Frage historisch, indem sie darauf aufmerksam machen, dass die Aufklärung, die den Menschen eigentlich zur Mündigkeit und zum Anstand hätte führen sollen, all dies nicht geleistet, sondern ihn stattdessen mehr und mehr in die Barbarei versenkt hat. Und den gleichen Ton schlägt auch Lübbe an, wenn er darauf hinweist, dass ein Mensch, der glaubt, die Einsicht in die endgültige Lösung zu haben, sich früher oder später unabwendbar berechtigt fühlen wird, Gewalt anzuwenden. Er schreibt: die Selbstermächtigung zur Gewalt sei ein unabwendbares Resultat dieses erhabenen Denkens.

Im Falle Raskolnikows behält er Recht: Der in Geldnot lebende Student sieht sich höheren Aufgaben gegenüber, denen er aber nur dann nachzukommen sich imstande sieht, wenn es ihm gelingt, die Armut abzuschütteln. Und so greift er schließlich zur Axt und erschlägt die geizige Pfandleiherin, die nur auf ihrem raffgierig zusammengeklaubten Wertstücken sitzt und sich ansonsten von der übrigen Welt absondert.
Doch in dem Moment, in dem Raskolnikow zur Tat schreitet, wird er selbst Opfer der unglaublichen Oberflächlichkeit seines Blicks. Denn sowie die Axt sich in der Pfandleiherin versenkt, ergreift ihn gerade das, was in seiner Ordnung eigentlich bloß dem gewöhnlichen Menschen anhängt: das Niedere, das ihn von der erhabenen Einsicht fernhält. Aber er versteht es nicht, und darum kämpft er, hin und her gerissen zwischen den Überzeugungen seines Denkens und dem Urteil seines Gewissens, bis zuletzt, ohne beides je zu vereinigen.

Die Zerrissenheit aber ist schon ein sehr weiter Schritt. Sie ist bereits dasjenige, durch das die Oberflächlichkeit des pragmatistischen Blicks offenbar wird.
Denn der pragmatistische Blick zeichnet sich gewissermaßen dadurch aus, dass die Zwecke und Ziele selbst keiner Begründung mehr bedüftig sind. Es genüngt, dass sie erkannt sind. Es genügt, dass die Gegebenheiten gesichtet und als problematisch beurteilt wurden. Die Methoden ergeben sich durch die Probleme unweigerlich, ganz offensichtlich und völlig zweifellos; und sie erscheinen deshalb als "rein pragmatisch".

(Bild: Fjodor Dostojewski)

Mittwoch, 25. November 2009

Montag, 23. November 2009

Bettina Schardt: ›Leben‹


Man selber ist ja zweifelsfrei
von Anfang an schon mit dabei
und spielt, bis es zu Ende ist,
doch leider meist nur als Statist,
mit andern, die es auch nicht können,
das Spiel, das wir das Leben nennen.
(Bettina Schardt)


Bettina Schardt schrieb mir dieses Gedicht auf, während ich 2002 als Zivi beim mobilen sozialen Hilfsdienst bei ihr Hausbesuche machte.
Sie sorgte im Sommer 2008 bundesweit für Schlagzeilen, als sie im Alter von 79 Jahren beschloss, in Erwartung einer Lebenssituation, die sie als unwürdig empfand, freiwillig aus dem dem Leben zu treten und diesen Schritt unter beihilfe von Roger Kusch in die Öffentlichkeit zu tragen. Viele sprachen dabei von einer "bedauernswerten Frau". So, wie ich sie kennen gelernt hatte, erschien sie mir jedoch - im Gegenteil - nicht als bedauernswert, sondern als durch und durch bewunderswert. Sie war eine hoch gebildete Frau und hatte so tiefgreifende Einsicht in ihr eigenes innerstes Wesen, wie es nur den wenigsten Menschen vergönnt ist. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass nicht Angst sie aus dem Leben getrieben, sondern innere Selbstzufriedenheit ihr den Mut gegeben hat, sich von einem erfüllten Leben selbstständig zu verabschieden. Und ganz nebenbei: im Grunde sagte sie ja selbst sehr deutlich, was sie zu diesem Entschluss bewegte -- man muss ihr also nur zuhören ...

>>> Link zum Spiegel-Artikel vom 30.06.2008


YouTube-Video über das Gespräch mit Roger Kusch

Sonntag, 22. November 2009

Samstag, 21. November 2009

Das Märchen von der ›unsichtbaren Hand‹

Es war einmal ein alter Schotte, der sich nach einer langen wissenschaftlichen Karriere und diversen Bildungsreisen dazu veranlasst fühlte, seine über die vielen Jahre erworbenen Einsichten in einem bedeutenden Werk niederzuschreiben. Er hatte reichlich Erfahrung auf dem Felde, das er zu bearbeiten beabsichtigte, und so dauerte es nicht lange, bis er das Werk mit dem eingehenden Namen: "An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" schließlich fertig stellte und die letzte Seite stolz mit seinem Namen unterschrieb: Adam Smith.

Selbst viele Jahre nach seinem Tod war das Werk noch bekannt und berühmt. Vor allem aber sprachen viele Völker ehrfurchtsvoll von der sagenumwogenen "unsichtbaren Hand", die in diesem Werk verborgen lag. Man betrachtete sie als Heilsbringer der wirtschaftlichen Systeme, die immer wieder durch Chaos und zu strenge staatliche Regulierungen verunsichert wurden.
In "Der Wohlstand der Nationen", wie man das Werk Smiths in deutschsprachigen Gefilden nannte, unterschied Smith nämlich den sog. natürlichen vom tatsächlichen Preis, und er versuchte durch diese beiden wesentlichen Größen den Prozessen des heiligen MARKTES, des einen Gottes moderner Zivilisationen, einen höheren Sinn zu verleihen. MARKT ist der Mythologie nach zwischen den beiden transzendenten Prinzipien von Angebot und Nachfrage hin und her gerissen. Ständig stehend auf dem tatsächlichen Preis, strebt er in innerer Zerrissenheit zwischen Angebot und Nachfrage, einmal mehr hier und einmal mehr dort sich labend, stets dem natürlichen Preis entgegen, welcher im Herzen des Gleichgewichtszustands, dem ewigen Equilibrium, ruht.
Um diesen heiligen Naturzustand nicht zu verändern oder zu untergraben, ist es der Priesterschaft des MARKTES, dem sog. Staat, strikt untersagt, aktiv in diese Prozesse einzugreifen; gleichwohl sie aber angehalten ist, stets dafür zu sorgen, dass der öffentliche Wettbewerb stets belebt und niemals ruhend ist. Denn freier Wettbewert ist das heilige Karma des großen MARKTES und nur durch dieses, kann der MARKT bestehn.
Über alledem aber -- so glaubte man! -- wacht das eine Prinzip: die allmächtige "unsichtbare Hand", und da diese stets Wache hält, kann dem heiligen MARKT, wenn er nur frei agieren kann -- niemals ein Leid geschehen.

... zu blöd, dass die Heilige Schrift des Adam Smith nicht genau gelesen wurde, denn die "unsichtbare Hand" war für das Wachen über den MARKT niemals vorgesehen! Sondern worüber sie wachte, und was sie steuerte, war eine völlig andere, eine ethische, keine wirtschaftliche Sache! Smith stellte in seinem Werk nämlich die These auf, dass das Wohl der Allgmeinheit besser dadurch befördert werden könne, wenn jeder nur sein eigenes wirtschaftliches Wohl zu befördern suchte, als wenn er versuchte, darüber hinaus auch noch das Allgemeinwohl zu fördern. Der gezielte Versuch, das Allgemeinwohl zu fördern sei wenig produktiv; da aber jeder, indem er nur seinen eigenen Reichtum im Sinn habe, auch die Produktivität der Allgemeinheit befördert, wirke sich das private, ungehemmte(!) Wirtschaften auf dem freien Markt positiver auf das Allgemeinwohl aus, als ein gezieltes Unternehmen dies je zustände bringen könnte.

"Er [Der Mensch] wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat."
(Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen)

Lange Zeit noch glaubten und verkündeten viele Menschen dieses Märchen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute ...

(Bild: Adam Smith)

Mittwoch, 18. November 2009

über die innere Struktur gesellschaftlicher Machtverhältnisse

Die gewöhnliche Ansicht ist, wenn von gesellschaftlichen Machtverhältnissen die Rede ist, sofort geneigt, zu einem zweipoligen Schema zu greifen: auf der einen Seite diejenigen, die Macht haben und ausüben und auf der anderen Seite diejenigen, die keine Macht haben und über die Macht ausgeübt wird. Gesamtgesellschaftlich führt dieses Schema zur Vorstellung einer hierarchischen Gliederung, aus der sich die vielschichtigen Machtverhältnisse erklären lassen. Aber diese Ansicht verkennt die wesentliche innere Struktur der Macht. Sie sieht bloß Gewaltverhältnisse, also die systematische Verteilung der Gewaltausübung. Die Machtstruktur ist dadurch ganz und gar nicht zu verstehen.

"[Macht ist] keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert. [...] Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht."
(Michel Foucault, Überwachen und Strafen)

Will man die innere Struktur von Machtverhältnissen verstehen, dann muss man sich der Weise zuwenden, wie sie wirkt. Die Fähigkeit zur Unterdrückung erweist sich als bloße Gewalt, der sich Menschen entweder beugen, sie wenigstens dulden, oder aber sich dagegen auflehnen können; während es der Macht wesentlich ist, eine stabile Kräfteverteilung zu schaffen. Nicht Akteure haben also Macht, sondern Macht ist ein wesentliches Moment der Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren.

"Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht."
(Michel Foucault, Dispositive der Macht)

Nur dort, wo leibliche Wesen sich von bestimmten, herrschenden Denkordnungen etwa in Gestalt von Scham-, Schuld-, Angst-, aber auch Stolz- und Eitelkeitsempfindungen affizieren lassen, kann Macht walten. Die eigentliche Maschinerie der Macht geht also aus der Wirkungsweise der den öffentlichen Diskursen zugrunde liegenden Denkordnungen hervor. Sie stiftet allererst den Spannungshalt der bestehenden Kräfteverhältnisse. Die Stabilität dieser Kräfteverteilung ergibt sich im Wesentlichen aus der Vorborgenheit des Selbstverständlichen, Unsagbaren und daher das Denken, Verstehen und Wahrnehmen ursprünglich Ordnenden. Daher schreibt Foucault:

"Die Erfahrung, die es uns gestattet, bestimmte Mechanismen zu verstehen [...] und die Weise, in der wir fähig werden, uns von ihnen zu lösen, indem wir sie mit anderen Augen wahrnehmen, sind nur die beiden Seiten derselben Medaille. Dies ist in der Tat das Herz meines Unternehmens."
(Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier)


(Bild: Michel Foucault)

Montag, 16. November 2009

Wer sind eigenlich ›Wir‹?

"Wir" ist ein Begriff mit enormer politischer Wirkmacht. Er versammelt Menschen aus unterschiedlichsten Milieus und mit den verschiedensten Lebensformen unter einer gemeinsamen Idee und schafft dadurch ein Feld, innerhalb dessen die Menschen bereit sind, sich miteinander zu solidarisieren. War mir der Andere zuvor noch ganz gleichgültig, erscheint er mir nun als auf meiner Seite stehend. "Wir" arbeiten an der selben Sache, "wir" machen es gemeinsam; "wir" sind es gemeinsam; "wir" sitzen im selben Boot.
Aber dieses "Wir" gibt es nur, weil es ein "außerhalb des Wir" gibt. Das Feld des "Wir" ist durch klare ideelle Grenzen umzäunt. Die Schaffung eines "Wir", schafft zugleich ein "Nicht-Wir", von dem es sich distanziert. Wo "wir" nicht sind, sind nur diejenigen, die vom "Wir" ausgeschlossen sind, oder genauer, die sich selbst vom "Wir" ausschließen. "Wir" schließen die Anderen nicht aus, denn das "Wir" ist ein vereinendes Prinzip, kein spaltendes.
Aber das "Wir" erschafft nicht nur, um selbst entstehen zu können, das "Nicht-Wir", den Anderen, dem das Wir entgegensteht, sondern es negiert zugleich auch das "Ich", das in diesem "Wir" ganz aufgeht. Vom mir ist in diesem "Wir" nicht das Mindeste mehr zu finden. Niemand ist eigentlich mehr partizipierendes "Ich" in dem "Wir", sondern "wir" sind wahrhaftig alle, aber keiner selbst.

Immer, wenn von uns in einem "Wir" gesprochen wird, sollten "wir" hellhörig werden -- und vorsichtig. Denn wo "ich" nicht mehr zu finden bin, da ist auch für mich selbst keine Garantie gegeben, ob "ich" diesem "Wir" überhaupt angehöre. All zu schnell hat sich das "Wir" gewandelt oder das "Ich" hat sich schleichend und unmerklich von dem "Wir" entfernt; und all zu schnell verbirgt sich das "Ich" nicht mehr im "Wir", sondern im "Nicht-Wir". Wohin "ich" aber eigentlich gehören will, das steht überhaupt nicht zur Verhandlung. "Ich" tue nämlich gar nichts dafür, um zu "uns" zu gehören, sondern es widerfährt mir; oder es widerfährt mir nicht.

Niemand hat etwas dafür getan, dass "wir" ein Volk wurden, dass "wir" Papst wurden, oder dass "wir" neuerdings die Kraft haben. Wichtig ist nur, dazu zu gehören, denn, ob es öffentlich ausgesprochen wird oder nicht, es liegt in der konstitutiven Natur des "Wir", dass jeder, der nicht glücklicherweise für uns ist, sogleich und unvermeidbar gegen uns ist. Vorwerfen aber kann man das "Unsrige" niemandem, niemand trägt Schuld, niemand Verantwortung, denn dort, wo "wir" gehandelt haben, ist es wahrhaftig nie einer gewesen.

(Bild: Peter Schunter: Masse I, 1993)

Sonntag, 15. November 2009

Samstag, 14. November 2009

Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters

(Kalendergeschichten)

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon -
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang,
die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.

(Bild: Bertolt Brecht)

Freitag, 13. November 2009

über das Motto

Ich habe das Heidegger-Zitat am Rande deswegen diesem Blog als Motto vorangestellt, weil es m.E. ein Fundamentalproblem des öffentlichen Diskurses benennt, das in vielschichtiger Weise so ziemlich in jedem Bereich des täglichen Lebens zum Austrag kommt. Ich hoffe, durch die folgende kritische Text-, Bild- und Videoreihe den wesentlichen Gehalt und die Tragweite dieses Problems allmählich herausfiltern und dadurch ein wenig sichtbarer machen zu können.

Es in definitorischer Manier einfach benennen will ich nicht, denn dadurch entstünde nur ein weiterer theoretischer Text ohne lebendigen Bezug, der daherkäme wie eine unter vielen langen, ausschweifenden und doch unvermeidbar verkürzenden Behauptungen; also etwas, was genau dem entspräche, was hier gerade als unsinnig herausgestellt werden soll. Die wirklichen Bedeutungen, die unser tägliches Leben tragen, können nicht einfach erdacht werden, sondern sie sind eigentlich immer schon gegeben, nur eben verdeckt (oder verborgen, wie man mit Heidegger sagen könnte). Sie müssen also gewissermaßen eigentlich "nur" ent-deckt und sichtbar gemacht werden, und zwar dort, wo sie entstehen, worin sie aufgehen und uns eigentlich allein begegnen: in der wirkenden Lebenswelt. Was durch ein solches Entdecken erreicht werden kann, ist kein formales Begreifen, sondern ein lebendiges Verstehen. Und nur dieses erweitert wirklich den Horizont, während jenes den vorhandenen allenfalls hin und wieder umsortiert.

(Bild: Martin Heidegger)