
So ungefähr spricht der Geist der Zeit über unsere aktuelle Sozialpolitik. Allerdings ist diese Haltung ganz und gar kein besonderes Phänomen der aktuellen Zeiten, wie man vielleicht meinen könnte. In Wahrheit ist diese Haltung über 2.500 Jahre alt. Sie ist vielmehr ein Phänomen einer ganz bestimmten Gesellschaftsschicht, derjenigen Schicht, die ich "die Teilhabenden" nenne.
Der französische Philosoph Jacques Rancière schreibt in seinem Werk "Das Unvernehmen": "Vom Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus bis zu unseren Regierungen hat die Partei der Reichen immer nur eine einzige Sache gesagt: Es gibt keinen Anteil der Anteillosen. [...] In den zeitgenössischen Euphemismen äußert sich der Satz anders: es gibt nur Teile der Gesellschaft, die gesellschaftlichen Mehrheiten und Minderheiten, gesellschaftliche berufliche Kategorien, Interessensgemeinschaften, Gruppen etc. Es gibt nur Teile, die man zu Partnern machen muss. Aber unter den gesitteten Formen der Vertragsgesellschaft und dem Regieren in Einklang, wie unter den brutalen Formen der Bejahung der Ungleichheit bleibt der Grundsatz derselbe: es gibt keinen Anteil der Anteillosen. Es gibt nur Anteile an den Teilen."
(Jacques Rancière, Das Unvernehmen)
Dem pragmatistischen Blick der Teilhabenden zeigt sich ein Gesellschaftsteil, der sich der Gesellschaft verweigert, ein Teil, der zwar von der Gesellschaft und durch die Gesellschaft leben möchte, der aber gleichzeitig es ablehnt, selbst etwas zu dieser Gesellschaft beizutragen. So liegt es nahe -- und ist nebenbei sehr bequem --, hier eine Gruppe von Faulenzern und Verweigeren zu entlarven. "Für diese hatten die ältesten römischen Juristen einen Namen erfunden: proletarii, diejenigen, die nichts tun, als ihre eigene Vielfalt zu reproduzieren und die aus ebenjenem Grund es nicht verdienen, gezählt zu werden." (ebd.)
Die selbe Idee erkennt auch Karl Marx hinter dem Ausdruck Proletariat. Er beschreibt es als die "Klasse der Gesellschaft, die keine Klasse der Gesellschaft mehr ist." (Karl Marx, Kritik der Hegelschen Philosophie des Rechts)
Heute ist der Begriff Prolatariat eher ungebräuchlich geworden. Stattdessen spricht man in jüngerer Zeit vom sogenannten Prekariat. Doch auch hinter diesem Ausdruck verbirgt sich exakt die selbe Bedeutung. So schreibt etwa der italienische Politologe Alex Foti: "Das Prekariat ist in der post-industriellen Gesellschaft, was das Proletariat in der Industriegesellschaft war."
Wie man es auch nennt: immer schafft die Bennennung kraft sprachlicher Identifizierung eine überschaubare Bedeutungssphäre und mithin das Verständnis von einem Gesellschaftsteil. Freilich weiß man, dass diesem Gesellschaftsteil keine bedeutenden Besitztümer gegeben sind. Dennoch wird er behandelt wie ein bestehender Teil, der an der Gesellschaft auch wirklich teilhat. In der modernen post-industriellen Gesellschaft herrscht nämlich das Ideal der Gleichheit. Niemand wird zurückgelassen, niemand fallengelassen. Jeder hat die gleichen Chancen. Jeder gehört dazu; oder wenigstens könnte jeder dazu gehören, wenn er nur wollte. So spricht der Geist der Zeit. Entsprechend schreibt Rancière: "Die Gleichheit ist der Anteil der Anteillosen."
Die wirklich Teilhabenden sind gleichzeitig auch immer Teilnehmende. Solange aber die Anteillosen oder Nicht-Teilhabenden -- wie unter dem pragmatistischen Blick -- als Teilhabende, aber Teilnahme-Verweigerer aufgefasst werden, wird niemals begriffen werden können, dass, um Menschen zur Teilnahme zu bewegen, ihnen zunächst die Teilhabe an ihrer Gesellschaft zugestanden und ermöglicht werden muss. Denn nur Teilhabende sind auch motiviert und bereit, teilzunehmen. Kein Mensch ist, war oder wird jemals bereit sein, an einer Gemeinschaft teilzunehmen, die ihm die Teilhabe sozialpsychologisch verweigert.
(Bild: Jacques Rancière)
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