Solidarität bedeutet, dass eine Gemeinschaft die Lasten, die ihre Mitglieder zu tragen haben, dergestalt auf die Schultern der Gemeinschaft verteilt, dass möglichst wenig Belastung für den Einzelnen besteht, indem sich die Starken Mitglieder mehr Gewicht aufladen als sie singulär müssten, und somit den Schwachen und Gebrechlichen dasjenige Gewicht abnehmen, das sie alleine niemals tragen könnten.
Auf dieser Idee basiert etwa das deutsche, gesetzliche Krankenversicherungswesen. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ist eine solidarische Versicherung. Auf Grundlage der Überzeugung, dass Krankheit und Gebrechlichkeit keine selbst gewählten Zustände der Einzelnen sind, d.h. jeden treffen können, ohne dass er sich dagegen wehren könnte, hat die Gemeinschaft beschlossen, dieser natürlichen Schwäche durch einen solidarischen Zusammenhalt zu begegnen. Das bedeutet, dass diejenigen, die glücklicherweise gesund sind und mehr zur Gemeinschaft beitragen können, jene mittragen, die schwächer sind und weniger beitragen können. Das regelmäßige Beitragsvermögen wird dabei schlichtweg an den regelmäßigen Einkommen gemessen. Wer mehr hat, trägt mehr bei; wer weniger hat, trägt weniger bei; wer gar nichts hat, wird von der solidarischen Gemeinschaft mitgetragen.
Der solidarische Wille des herrschenden Ethos wird zunehmend schwächer. Was heute zählt, ist das Leistungsprinzip. Jeder ist selbst zur Eigenverantwortung aufgerufen. Das Ideal der Zeit ist Stärke und Leistung. Solidarität hat in einem solchen System keinen Platz, denn es bremst und schwächt. Wer es sich heute leisten kann, steigt aus dem Solidaritätssystem aus und vermeidet somit, von der Gemeinschaft gehemmt und in der freien Entfaltung der Leistung behindert zu werden. Solidarität ist damit zu einer Sache der Schwachen geworden. Solidarität ist etwas für Zurückgebliebene.
Die Idee der Versicherunggerechtigkeit, die diesen Ethos begleitet ist die Idee der privaten Versicherungen: die Idee des Risikomanagements. Die private Versicherungen ist eine Risikoversicherung und hat mit dem Solidaritätsprinzip nicht das geringste zu tun. Sie basiert auf nichts anderem als statistischer Risikoberechnung. Die Versicherten werden nach Alter, Wohnort, Beruf, medizinischer Anamnese und individueller Lebensgestaltung in bestimmte Risikogruppen eingeteilt, um errechnen zu können, mit welcher Wahrscheinlichkeit, wie häufig und in welcher Höhe sie ihre Versicherung in Anspruch nehmen werden. Aus diesen Berechnungen ergibt sich dann die Höhe der Beiträge.
In einigen Bereichen erscheint dieses Konzept auch unter sozialer Betrachtung als sinnvoll: das sind diejengen Bereiche, in denen der Versicherte tatsächlich so etwas wie Entscheidunggewalt hat. So können wir uns etwa (in einem gewissen Rahmen) dafür oder dagegen entsheiden, ob wir uns ein eigenes Auto kaufen wollen, das wir versichern müssen. Krankheit oder Pflegebedürftigkeit jedoch können uns alle treffen, jederzeit und völlig ohne unser Zutun. Die Parole der privaten Versicherung jedoch ist: "Selber schuld!"
Doch die zunehmende Hin

Der deutsche Soziologe und Kriminologe Henning Schmidt-Semisch veranschaulicht diese Entwicklung u.a. an einer Gruppe, die bislang noch immer als unschuldig galt: die Opfer von Kriminalität. In seinem Aufsatz: "Selber schuld. Skizzen versicherungsmathematischer Gerechtigkeit" zeigt er, wie sich die in gesellschaftlichen Praktiken offenbarende öffentliche Auffassung und der öffentliche Diskurs über dieser Gruppe gewandelt hat: "Vom 'Opfer' zum 'Viktimisierungsrisiko'"
Er schreibt: "Die unterstellte Unschuld des Opfers ist heute bedroht, denn es dringt ins Bewusstsein, dass man gegen diese Art von Katastrophen etwas tun kann, dass also die Bedrohung auch von den eigenen Präventionsentscheidungen abhängt. [...]
Seit einigen Jahren lässt sich eine spürbare 'Aufrüstung' der Bevölkerung beobachten, sowohl in ihrer aktiven (Bewaffnung, Selbstverteidigung etc.) als auch passiven Variante (Versicherungen, Sicherheitsschlösser, Alarmanlagen, Überwachungskameras etc.). [...]
Die Verminderung des Risikos, Opfer von 'Kriminalität' zu werden, wird zunehmend als eine Aufgabe verstanden, für de man selbst Verantwortung trägt -- aber auch zu tragen hat [...] Ebenso wie es den gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr genügt, wenn ihre Klienten bei Zahnschmerzen zum Zahnarzt gehen, so reicht es heute auch nicht mehr, die Polizei reaktiv zu mobilisieren, sondern man hat die eigenen Sicherheitspotenziale proaktiv freizusetzen [...] Nur wer alles getan hat, kann darauf hoffen, nicht selbst schuld(ig geworden) zu sein."
(Bild: Henning Schmidt-Semisch)