Dienstag, 6. April 2010

Volker Pispers: Rente

eigentlich ein alter Hut; aber es kann mal wieder gesagt werden ...


(WDR2, 06.04.2010)

Dienstag, 26. Januar 2010

Von der Solidarität zum Risikomanagement (Teil 1)

Solidarität ist unmodern geworden. Vielen Strukturen unserer post-industriellen Gesellschaft liegt die Idee der Solidarität zwar noch zu zugrunde, aber sie gerät immer mehr und mehr in Vergessenheit. Strukturen werden umgestaltet, Konzepte werden verändert und Regelungen werden den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst. Doch jede Veränderung, jeder Beschluss und jede Neukonzeptualisierung ist nicht getragen durch alte Grundwerte -- auch wenn sie lange noch aus Gewohnheit und Traditionsbedürfnis vorgetragen werden --, sondern sie sind allein getragen durch den Geist des herrschenden (!) gesellschaftlichen Ethos'. Daher finden wir das Prinzip der Solidarität zwar strukturell noch vorhanden, doch die aktuelle Neugestaltung der gesellschaftlichen Praktiken zeugt von einem anderen Ethos. Und so lässt sich zunehemd beobachten, wie sich die Gesellschaft allmählich auch strukturell von diesem Wert verabschiedet.

Solidarität bedeutet, dass eine Gemeinschaft die Lasten, die ihre Mitglieder zu tragen haben, dergestalt auf die Schultern der Gemeinschaft verteilt, dass möglichst wenig Belastung für den Einzelnen besteht, indem sich die Starken Mitglieder mehr Gewicht aufladen als sie singulär müssten, und somit den Schwachen und Gebrechlichen dasjenige Gewicht abnehmen, das sie alleine niemals tragen könnten.

Auf dieser Idee basiert etwa das deutsche, gesetzliche Krankenversicherungswesen. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ist eine solidarische Versicherung. Auf Grundlage der Überzeugung, dass Krankheit und Gebrechlichkeit keine selbst gewählten Zustände der Einzelnen sind, d.h. jeden treffen können, ohne dass er sich dagegen wehren könnte, hat die Gemeinschaft beschlossen, dieser natürlichen Schwäche durch einen solidarischen Zusammenhalt zu begegnen. Das bedeutet, dass diejenigen, die glücklicherweise gesund sind und mehr zur Gemeinschaft beitragen können, jene mittragen, die schwächer sind und weniger beitragen können. Das regelmäßige Beitragsvermögen wird dabei schlichtweg an den regelmäßigen Einkommen gemessen. Wer mehr hat, trägt mehr bei; wer weniger hat, trägt weniger bei; wer gar nichts hat, wird von der solidarischen Gemeinschaft mitgetragen.

Der solidarische Wille des herrschenden Ethos wird zunehmend schwächer. Was heute zählt, ist das Leistungsprinzip. Jeder ist selbst zur Eigenverantwortung aufgerufen. Das Ideal der Zeit ist Stärke und Leistung. Solidarität hat in einem solchen System keinen Platz, denn es bremst und schwächt. Wer es sich heute leisten kann, steigt aus dem Solidaritätssystem aus und vermeidet somit, von der Gemeinschaft gehemmt und in der freien Entfaltung der Leistung behindert zu werden. Solidarität ist damit zu einer Sache der Schwachen geworden. Solidarität ist etwas für Zurückgebliebene.

Die Idee der Versicherunggerechtigkeit, die diesen Ethos begleitet ist die Idee der privaten Versicherungen: die Idee des Risikomanagements. Die private Versicherungen ist eine Risikoversicherung und hat mit dem Solidaritätsprinzip nicht das geringste zu tun. Sie basiert auf nichts anderem als statistischer Risikoberechnung. Die Versicherten werden nach Alter, Wohnort, Beruf, medizinischer Anamnese und individueller Lebensgestaltung in bestimmte Risikogruppen eingeteilt, um errechnen zu können, mit welcher Wahrscheinlichkeit, wie häufig und in welcher Höhe sie ihre Versicherung in Anspruch nehmen werden. Aus diesen Berechnungen ergibt sich dann die Höhe der Beiträge.
In einigen Bereichen erscheint dieses Konzept auch unter sozialer Betrachtung als sinnvoll: das sind diejengen Bereiche, in denen der Versicherte tatsächlich so etwas wie Entscheidunggewalt hat. So können wir uns etwa (in einem gewissen Rahmen) dafür oder dagegen entsheiden, ob wir uns ein eigenes Auto kaufen wollen, das wir versichern müssen. Krankheit oder Pflegebedürftigkeit jedoch können uns alle treffen, jederzeit und völlig ohne unser Zutun. Die Parole der privaten Versicherung jedoch ist: "Selber schuld!"

Doch die zunehmende Hinwendung zum Grundgedanken der privaten Krankenversicherung ist nur ein Fall, in dem sich der gesellschaftliche Ethoswandel von der Solidarität zum Risikomanagement zeigt.
Der deutsche Soziologe und Kriminologe Henning Schmidt-Semisch veranschaulicht diese Entwicklung u.a. an einer Gruppe, die bislang noch immer als unschuldig galt: die Opfer von Kriminalität. In seinem Aufsatz: "Selber schuld. Skizzen versicherungsmathematischer Gerechtigkeit" zeigt er, wie sich die in gesellschaftlichen Praktiken offenbarende öffentliche Auffassung und der öffentliche Diskurs über dieser Gruppe gewandelt hat: "Vom 'Opfer' zum 'Viktimisierungsrisiko'"
Er schreibt: "Die unterstellte Unschuld des Opfers ist heute bedroht, denn es dringt ins Bewusstsein, dass man gegen diese Art von Katastrophen etwas tun kann, dass also die Bedrohung auch von den eigenen Präventionsentscheidungen abhängt. [...]
Seit einigen Jahren lässt sich eine spürbare 'Aufrüstung' der Bevölkerung beobachten, sowohl in ihrer aktiven (Bewaffnung, Selbstverteidigung etc.) als auch passiven Variante (Versicherungen, Sicherheitsschlösser, Alarmanlagen, Überwachungskameras etc.). [...]
Die Verminderung des Risikos, Opfer von 'Kriminalität' zu werden, wird zunehmend als eine Aufgabe verstanden, für de man selbst Verantwortung trägt -- aber auch zu tragen hat [...] Ebenso wie es den gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr genügt, wenn ihre Klienten bei Zahnschmerzen zum Zahnarzt gehen, so reicht es heute auch nicht mehr, die Polizei reaktiv zu mobilisieren, sondern man hat die eigenen Sicherheitspotenziale proaktiv freizusetzen [...] Nur wer alles getan hat, kann darauf hoffen, nicht selbst schuld(ig geworden) zu sein."

(Bild: Henning Schmidt-Semisch)

Sonntag, 24. Januar 2010

Über Teilhabende und Teilnehmende

"Es gibt zu viele Menschen, die sich nur auf Kosten Anderer gemütlich auf die faule Haut legen. Es gibt zu viele Sozialschmarotzer. Es gibt zu Viele, denen es offenbar immer noch zu gut geht; die es nicht für nötig halten, arbeiten zu gehen. So lange wir diesen Faulenzern das Geld nur so hinterher werfen, brauchen wir uns auch nicht wundern, dass sie sich zu bequem sind, selbstständig für sich zu sorgen. Statt etwas zur Gesellschaft beizutragen, nutzen sie die Gutmütigkeit der Gesellschaft aus."

So ungefähr spricht der Geist der Zeit über unsere aktuelle Sozialpolitik. Allerdings ist diese Haltung ganz und gar kein besonderes Phänomen der aktuellen Zeiten, wie man vielleicht meinen könnte. In Wahrheit ist diese Haltung über 2.500 Jahre alt. Sie ist vielmehr ein Phänomen einer ganz bestimmten Gesellschaftsschicht, derjenigen Schicht, die ich "die Teilhabenden" nenne.

Der französische Philosoph Jacques Rancière schreibt in seinem Werk "Das Unvernehmen": "Vom Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus bis zu unseren Regierungen hat die Partei der Reichen immer nur eine einzige Sache gesagt: Es gibt keinen Anteil der Anteillosen. [...] In den zeitgenössischen Euphemismen äußert sich der Satz anders: es gibt nur Teile der Gesellschaft, die gesellschaftlichen Mehrheiten und Minderheiten, gesellschaftliche berufliche Kategorien, Interessensgemeinschaften, Gruppen etc. Es gibt nur Teile, die man zu Partnern machen muss. Aber unter den gesitteten Formen der Vertragsgesellschaft und dem Regieren in Einklang, wie unter den brutalen Formen der Bejahung der Ungleichheit bleibt der Grundsatz derselbe: es gibt keinen Anteil der Anteillosen. Es gibt nur Anteile an den Teilen."
(Jacques Rancière, Das Unvernehmen)

Dem pragmatistischen Blick der Teilhabenden zeigt sich ein Gesellschaftsteil, der sich der Gesellschaft verweigert, ein Teil, der zwar von der Gesellschaft und durch die Gesellschaft leben möchte, der aber gleichzeitig es ablehnt, selbst etwas zu dieser Gesellschaft beizutragen. So liegt es nahe -- und ist nebenbei sehr bequem --, hier eine Gruppe von Faulenzern und Verweigeren zu entlarven.
"Für diese hatten die ältesten römischen Juristen einen Namen erfunden: proletarii, diejenigen, die nichts tun, als ihre eigene Vielfalt zu reproduzieren und die aus ebenjenem Grund es nicht verdienen, gezählt zu werden." (ebd.)
Die selbe Idee erkennt auch Karl Marx hinter dem Ausdruck Proletariat. Er beschreibt es als die
"Klasse der Gesellschaft, die keine Klasse der Gesellschaft mehr ist." (Karl Marx, Kritik der Hegelschen Philosophie des Rechts)
Heute ist der Begriff Prolatariat eher ungebräuchlich geworden. Stattdessen spricht man in jüngerer Zeit vom sogenannten Prekariat. Doch auch hinter diesem Ausdruck verbirgt sich exakt die selbe Bedeutung. So schreibt etwa der italienische Politologe Alex Foti:
"Das Prekariat ist in der post-industriellen Gesellschaft, was das Proletariat in der Industriegesellschaft war."

Wie man es auch nennt: immer schafft die Bennennung kraft sprachlicher Identifizierung eine überschaubare Bedeutungssphäre und mithin das Verständnis von einem Gesellschaftsteil. Freilich weiß man, dass diesem Gesellschaftsteil keine bedeutenden Besitztümer gegeben sind. Dennoch wird er behandelt wie ein bestehender Teil, der an der Gesellschaft auch wirklich teilhat. In der modernen post-industriellen Gesellschaft herrscht nämlich das Ideal der Gleichheit. Niemand wird zurückgelassen, niemand fallengelassen. Jeder hat die gleichen Chancen. Jeder gehört dazu; oder wenigstens könnte jeder dazu gehören, wenn er nur wollte. So spricht der Geist der Zeit. Entsprechend schreibt Rancière: "Die Gleichheit ist der Anteil der Anteillosen."

Die wirklich Teilhabenden sind gleichzeitig auch immer Teilnehmende. Solange aber die Anteillosen oder Nicht-Teilhabenden -- wie unter dem pragmatistischen Blick -- als Teilhabende, aber Teilnahme-Verweigerer aufgefasst werden, wird niemals begriffen werden können, dass, um Menschen zur Teilnahme zu bewegen, ihnen zunächst die Teilhabe an ihrer Gesellschaft zugestanden und ermöglicht werden muss. Denn nur Teilhabende sind auch motiviert und bereit, teilzunehmen. Kein Mensch ist, war oder wird jemals bereit sein, an einer Gemeinschaft teilzunehmen, die ihm die Teilhabe sozialpsychologisch verweigert.

(Bild: Jacques Rancière)